Ich habe große Sehnsucht nach einer besonderen Art von Welt, in der man arbeiten und atmen und sich manchmal wie verrückt freuen kann.
Anna Seghers
BIOGRAFIE
Anna Seghers wird als Netty Reiling geboren und ist schon während der Studienzeit literarisch produktiv. Ihre Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara, für die sie den Kleist-Preis erhält, veröffentlicht sie 1928 unter dem Namen Anna Seghers. Im selben Jahr tritt sie in die KPD ein. 1933 geht sie über die Schweiz ins Pariser Exil, wo sie als Autorin verschiedener Exilzeitschriften tätig ist und sich im Schutzverband Deutscher Schriftsteller engagiert. 1940/41, als sie in Marseille auf das Ausreisevisum nach Mexiko wartet, beginnt sie den Roman Transit. Im mexikanischen Exil ist sie weiterhin politisch aktiv und schreibt ihre Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen. 1947 kehrt sie nach Deutschland zurück und lebt ab 1949 als angesehene Schriftstellerin in der DDR.
1900 – 1920
MAINZ
1900
Netty Reiling wird am 19. November in Mainz geboren. Die Mutter Hedwig stammt aus einer bekannten Frankfurter Kaufmannsfamilie. Der Vater Isidor Reiling betreibt eine Kunst- und Antiquitätenhandlung am Flachsmarkt in Mainz. Die Familie bekennt sich zur orthodoxen Israelitischen Religionsgemeinschaft.
1907
Netty Reiling besucht die Privatschule von Fräulein Goertz.
1910
Sie wird in die Höhere Mädchenschule in der Peterstraße aufgenommen.
1914
Netty Reiling und ihre Mitschülerinnen nehmen während des Ersten Weltkrieges an Kriegshilfsdiensten teil.
1917
Von Ostern an setzt Netty Reiling den Schulbesuch am Realgymnasium fort, um das Abitur abzulegen.
1920
Sie erhält das Reifezeugnis am 5. Februar.
1920 – 1925
HEIDELBERG – KÖLN – BERLIN
1920
20. April: Netty Reiling beginnt ein Studium in Heidelberg, zunächst belegt sie: Allgemeine Geschichte im 19. Jahrhundert; Chinesische Umgangssprache; Sozialtheorie des Marxismus; Moderne Entwicklung in China und Japan; Einführung in die ägyptische Kunst.
In Heidelberg lernt sie den ungarischen Emigranten Laszlo Radvanyi – ihren späteren Ehemann – kennen.
1921
Kunstgeschichtliche Studien am Museum für Ostasiatische Kunst führen sie nach Köln.
1922
Zum Wintersemester kehrt sie nach Heidelberg zurück.
1924
Netty Reiling schreibt die Dissertation "Jude und Judentum im Werk Rembrandts". Sie promoviert zum Doktor der Philosophie am 4. November.
In der Weihnachtsausgabe der Frankfurter Zeitung und Handelsblatt erscheint Die Toten auf der Insel Djal. Eine Sage aus dem Holländischen, nacherzählt von Antje Seghers.
Laszlo Radvanyi wird aktiv in der Bildungsarbeit der Marxistischen Arbeiterschule in Berlin.
1925 – 1933
BERLIN
1925
Am 10. August heiraten Netty Reiling und Laszlo Radvanyi. Das Ehepaar wohnt in Berlin-Wilmersdorf, Helmstedter Straße.
1926
Geburt des Sohnes Peter.
1927
Die Erzählung Grubetsch erscheint als Fortsetzungsdruck in der Frankfurter Zeitung und Handelsblatt.
1928
Geburt der Tochter Ruth.
Die Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara erscheint im Kiepenheuer Verlag in Potsdam.
Sie erhält den Kleistpreis auf Vorschlag von Hans Henny Jahnn.
Anna Seghers – so fortan ihr Schriftstellername – wird Mitglied im neu gegründeten Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Außerdem tritt sie der KPD bei.
1929
Sie reist auf Einladung des P.E.N. Clubs nach London.
1930
Erste Reise in die Sowjetunion.
Seit Anfang der dreißiger Jahre wohnt die Familie Radvanyi in Berlin-Zehlendorf, Am Fischtal.
Auf dem Wege zur amerikanischen Botschaft und andere Erzählungen.
1932
Sie nimmt am Antikriegskongress in Amsterdam teil.
Der Roman Die Gefährten erscheint im Kiepenheuer Verlag.
1933
Am 30. Januar wird Hitler zum Reichskanzler ernannt.
Anna Seghers flieht sofort in die Schweiz.
1933 – 1940
PARIS
1933
Die weitere Flucht führt nach Frankreich, die Kinder und ihr Mann folgen. Anna Seghers und ihre Familie finden eine Wohnung in Bellevue bei Paris.
Sie wird Redaktionsmitglied der Neuen Deutschen Blätter. Monatsschrift für Literatur und Kritik. Prag-Wien-Zürich-Paris-Amsterdam.
Sie beteiligt sich an der Neugründung des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller in Paris.
1934
Sie reist nach Österreich und ist Beobachterin im Prozess gegen Wiener Februar-Aufständische.
1935
Auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris vom 21. bis 25. Juni spricht Anna Seghers über das Thema Vaterlandsliebe.
Ab November 1935 leitet Laszlo Radvanyi die Freie Deutsche Hochschule in Paris.
1937
Sie nimmt an Internationalen Schriftstellerkongressen in Madrid und Paris teil.
1939
Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Die Radvanyis, den französischen Behörden als kommunistische Hitlergegner mit ungarischem Pass bekannt, sind jetzt unter "nationalem Gesichtspunkt Verdächtige".
1940
Laszlo Radvanyi wird interniert und kommt ins südfranzösische Lager Le Vernet.
Deutscher Angriff auf Belgien, die Niederlande und Frankreich.
Nach gescheiterter Flucht vor der deutschen Wehrmacht muss sich Anna Seghers mit ihren Kindern im besetzten Paris verbergen. Ein zweiter Fluchtversuch ins unbesetzte Gebiet gelingt mithilfe von Jeanne Stern.
In Pamiers und Marseille bemüht sie sich um die Entlassung ihres Mannes aus dem Gefangenenlager und sucht nach Ausreisemöglichkeiten.
1941 – 1947
MEXIKO
1941
Die Familie Radvanyi verlässt Marseille am 24. März.
Auf der Route Martinique, Santo Domingo, Ellis Island/New York gelangen die Flüchtlinge am 30. Juni nach Veracruz und schließlich nach Mexiko Stadt.
Laszlo Radvanyi wird Professor an der Arbeiter-Universität Mexiko, 1944 auch an der Nationaluniversität.
Anna Seghers arbeitet auch im lateinamerikanischen Exil für eine breite antifaschistische Sammlungsbewegung. Sie wird Präsidentin des Heinrich-Heine-Clubs. In der Zeitschrift Freies Deutschland, die ab Oktober 1941 erscheint, veröffentlicht sie u.a. die Aufsätze Volk und Schriftsteller (1942) und Köln (1942).
1942
Das siebte Kreuz. Roman aus Hitlerdeutschland erscheint in Englisch (USA) und in Deutsch (Mexiko).
Die Bemühungen um Ausreisepapiere für die Mutter Hedwig Reiling – der Vater war 1940 zwei Tage nach dem erzwungenen Verkauf von Geschäft und Haus gestorben – haben keinen Erfolg. Der Name der Mutter steht neben anderen Bekannten und Verwandten in der Liste der tausend hessischen Jüdinnen und Juden, die für den Transport in das sog. Generalgouvernement bestimmt waren.
Der Beginn der Deportation ist am 20. März.
1943
Anna Seghers erleidet am 25. Juni einen schweren Verkehrsunfall. Es folgt ein langer Krankenhausaufenthalt. Während der Rekonvaleszenz arbeitet sie an der autobiografischen Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen.
1944
Transit. Der Roman erscheint zuerst in Spanisch, Englisch und Französisch.
Fred Zinnemann verfilmt Das siebte Kreuz in Hollywood.
1945
Nach dem Kriegsende kann Sohn Peter als erster nach Europa zurückkehren; er beginnt ein Studium in Paris.
1946
Nach dem Kriegsende kann Sohn Peter als erster nach Europa zurückkehren; er beginnt ein Studium in Paris.
Am 1. Februar gibt es den Abschiedsabend des Heinrich-Heine-Clubs.
1947
Im Januar verlässt Anna Seghers Mexiko. Sie kehrt über New York, Stockholm und Paris zurück, am 22. April 1947 kommt sie in Berlin an.
Der Aufbau Verlag beginnt mit der Edition der Exilwerke.
Es folgt die Tochter Ruth, die gleichfalls nach Paris zum Studium geht.
1947 – 1950
BERLIN
1947
Anna Seghers nimmt zuerst Quartier in Berlin-Wannsee, am Sandwerder 5, im Casino-Hotel. (Heute befindet sich in diesen Räumen das Literarische Colloquium Wannsee.)
Am 20. Juli wird ihr der Georg-Büchner-Preis der Stadt Darmstadt verliehen.
Auf dem I. Deutschen Schriftstellerkongress vom 4. bis 8. Oktober spricht sie über den Schriftsteller und die geistige Freiheit.
1948
Im April gehört sie einer Delegation von Künstlerinnen und Künstlern an, die in die Sowjetunion reisen. Im August nimmt sie am Weltkongress der Intellektuellen in Wroclaw teil, der den Auftakt der Nachkriegs-Friedensbewegung bildet.
Sowjetmenschen. Lebensbeschreibungen nach ihren Berichten erscheint in Berlin.
Der Roman Transit erscheint erstmals in deutscher Sprache bei Weller in Konstanz.
1949
Im April nimmt Anna Seghers am Weltfriedenskongress in Paris teil. Für die Friedensbewegung ist sie auch in den folgenden Jahren in vielen Ländern unterwegs.
Die Toten bleiben jung. Roman erscheint im Aufbau Verlag Berlin und im Suhrkamp Verlag Frankfurt/M..
1950
wird Anna Seghers Mitglied des Weltfriedensrates. Sie arbeitet mit am Stockholmer Appell zum Verbot und zur Ächtung aller Atomwaffen.
In der seit Oktober 1949 bestehenden Deutschen Demokratischen Republik wird sie zum Gründungsmitglied der Deutschen Akademie der Künste berufen.
Die Linie. Drei Erzählungen.
1950er
BERLIN
1951
beginnt der Aufbau-Verlag mit der Edition Gesammelte Werke in Einzelausgaben.
Neu erscheinen: Crisanta. Mexikanische Novelle und Die Kinder. Drei Erzählungen.
Im September/Oktober reist sie mit einer Delegation nach China.
Sie erhält erstmals den Nationalpreis der DDR, weitere folgen 1959 und 1971.
1952
kehrt ihr Mann Laszlo Radvanyi aus Mexiko nach Berlin zurück. Anna Seghers unternimmt Lesereisen nach Thüringen, Franken und Bayern. Im Mai findet der III. Deutsche Schriftstellerkongress statt. Anna Seghers wird zur Vorsitzenden des Deutschen Schriftstellerverbandes gewählt.
Der Mann und sein Name. Erzählung.
1953
Neue Erzählungen erscheinen in der Sammlung Der Bienenstock, u.a. Das Argonautenschiff und Friedensgeschichten.
Im Umfeld der Demonstrationen und Streiks am 17. Juni diskutiert Anna Seghers mit Bauarbeitern.
1954
verbringt sie mehrere Wochen mit Archivstudien zu Lew Tolstoi in der Sowjetunion.
1955
Längerer Krankenhausaufenthalt.
Anna Seghers bezieht die Wohnung in der Volkswohlstraße 81, wo sie bis zu ihrem Lebensende wohnen bleibt. Heute befindet sich in der Wohnung das Anna-Seghers-Museum.
Im Juni nimmt sie am Weltfriedenstreffen in Helsinki teil, das von der Sorge um die Folgen der Pariser Verträge bestimmt ist.
Während der Schiller-Ehrung in Weimar trifft Anna Seghers mit Thomas Mann zusammen.
1956
Im Januar findet der IV. Deutscher Schriftstellerkongress statt. Anna Seghers hält das Referat Der Anteil der Literatur bei der Bewusstseinsbildung des Volkes.
Im Frühjahr reist sie erneut in die Sowjetunion. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU hat Chruschtschow begonnen, mit den Verbrechen und Folgen der stalinistischen Politik abzurechnen.
Im Herbst ereignet sich der Aufstand in Ungarn, gefolgt von der sowjetischen Intervention.
Anna Seghers ist an einem Versuch beteiligt, Georg Lukács in Ungarn zu helfen.
1957
Der Prozess gegen Walter Janka, Leiter des Aufbau-Verlages, findet statt.
Anna Seghers veranlasst eine Resolution Berliner Schriftsteller, die Janka entlasten soll. Sie interveniert vergeblich bei Walter Ulbricht.
1958
Brot und Salz. Erzählungen.
1959
Die Entscheidung. Roman.
Ehrenpromotion durch die Friedrich-Schiller-Universität Jena zum Dr. h.c.
bis 1983
BERLIN
1961
Das Licht auf dem Galgen. Erzählung.
Sie unternimmt eine Schiffsreise nach Brasilien und besucht Jorge Amado.
1962
Das siebte Kreuz erscheint nach der Ausgabe in Rowohlts Rotations-Romanen von 1948 erstmals auf dem Gebiet der Bundesrepublik im Luchterhand Verlag.
1963
Der Luchterhand Verlag beginnt mit der ersten siebenbändigen Ausgabe Ausgewählte Werke für die Bundesrepublik Deutschland.
Anna Seghers nimmt an der Kafka-Konferenz in Liblice bei Prag teil, die als Debatte um die Entfremdung auch im Sozialismus in die Literatur- und Kulturgeschichte eingegangen ist. Sie trifft auch Peter Weiss.
Sie unternimmt ihre zweite Brasilienreise.
1965
Die Kraft der Schwachen. Neun Erzählungen.
1966
Ihre Rede auf der I. Jahreskonferenz des Schriftstellerverbandes trägt den Titel Die Aufgaben des Schriftstellers heute. Offene Fragen.
1967
Das wirkliche Blau. Eine Geschichte aus Mexiko.
Im Dezember erfolgt ein Krankenhausaufenthalt, der sich von nun an beinahe jährlich wiederholt.
1968
Das Vertrauen. Roman.
Anna Seghers arbeitet mit am Szenarium für die Verfilmung von Die Toten bleiben jung. Szenarium: Walter Janka/Joachim Kunert, Dramaturg: Christa Wolf, Regie: Joachim Kunert.
1969
Glauben an Irdisches. Essays aus vier Jahrzehnten. Hrsg. und mit einem Vorwort versehen von Christa Wolf.
1971
Überfahrt. Eine Liebesgeschichte.
1973
Sonderbare Begegnungen.
Der Deutsche Schriftstellerverband, dessen Präsidentin Anna Seghers ist, wird umbenannt in Schriftstellerverband der DDR. Begrüßungsrede zum VII. Schriftstellerkongress.
1975
Sie erhält den Kulturpreis des Weltfriedensrates und die Ehrenbürgerschaft von Berlin (Ost).
Der Aufbau Verlag beginnt seine zweite Edition gesammelter Werke der Autorin.
1977
Steinzeit. Wiederbegegnung. Zwei Erzählungen.
Die Luchterhand-Edition Werke in zehn Bänden erscheint.
Ihr wird die Ehrenbürgerwürde der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.
Mehrmonatige Krankheit.
1978
Anna Seghers tritt als Präsidentin des Schriftstellerverbandes zurück und wird Ehrenpräsidentin.
Am 3. Juli stirbt ihr Mann Laszlo Radvanyi.
1980
Drei Frauen aus Haiti ist ihr letztes Buch, das zu Lebzeiten erscheint.
1981
Anna Seghers wird Ehrenbürgerin der Stadt Mainz.
1982
Mit kurzen Unterbrechungen folgen mehrere Krankenhausaufenthalte.
1983
Anna Seghers stirbt am 1. Juni. Staatsakt in der Akademie der Künste. Sie wird auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte in einem Ehrengrab des Landes Berlin beigesetzt.